Aus unserem Ortsverein: So vielfältig wie die Stadtgesellschaft: Jüdisches Leben in Hannover
Jüdisches Leben war - und ist - in Hannover so vielfältig wie unsere Stadtgesellschaft insgesamt. Das machte der Historiker Peter Schulze deutlich, als er in unserer öffentlichen Mitgliederversammlung über "Jüdisches Leben im Hannover der 1920er-Jahre" (so der Titel seines Vortrages) sprach.
Seit mehr als 700 Jahren leben Menschen jüdischen Glaubens in Norddeutschland, doch erst Mitte des 19. Jahrhunderts erhielten sie "erst die gleichen Rechte in einer Gesellschaft, in deren Leben sie seit Jahrhunderten eingebunden waren", stellte Peter Schulze zu Beginn seines Vortrages fest. Vor diesem Hintergrund wuchs die Jüdische Gemeinde in Hannover sehr schnell: von etwa 700 Menschen um 1860 auf ungefähr 5.000 sechzig Jahre später. Damit war die Jüdische Gemeinde in Hannover eine der größten im Deutschland der Weimarer Republik.
Anhand familiärer und persönlicher Schicksale schilderte Schulze den Aufstieg jüdischer Menschen in die bürgerliche Mittel- und in Teilen sogar der Oberschicht unserer Stadt. Zu den bekanntesten gehört die Familie Berliner mit Emil Berliner, der unter anderem das Grammophon und die Schallplatte erfunden hatte, Clara Berliner, die sich bis in die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung hinein der Fürsorge für andere jüdische Familien kümmerte, oder Cora Berliner, die in Berlin die Auswanderung jüdischer Menschen aus Nazi-Deutschland organisierte. Oder Siegfried Seligmann, der zum Chef der Continental Gummiwerke aufstieg.
Viele jüdische Menschen im Hannover der 1920er-Jahre waren Geschäftsleute, Händler und Ärzte, doch auch Arme und Bedürftige gab es. Die jüdische Gemeinde bildete somit einen Querschnitt der deutschen Gesellschaft ab, das galt auch für das Wertesystem, wo progressive, sozialistische Vorstellungen ebenso zu finden waren wie konservative, nationalistische Ideen. Lediglich in politischen Einstellungen dürfte es am rechten Rand keine jüdischen Wähler gegeben haben, da der völkische Rassismus auf ihre Ausgrenzung zielte. Hannovers Jüdinnen und Juden waren also, so Schulze, "keine einheitliche Gruppe"; sie waren aber "staatstreue Bürger, liberal oder konservativ und überwiegend antizionistisch".
Für jüdische Vertreter des Bürgertums sei die Teilnahme am Kulturleben zentral gewesen, weshalb unter den Gründungsmitgliedern der Kestner-Gesellschaft etliche Juden waren und mit Richard Lert und Georg Altmann jüdische Künstler an Oper und Schauspiel zu großer Bekanntheit gelangten (Altmann lebte übrigens in Kleefeld, wo ansonsten nur wenige jüdische Menschen in den 1920er-Jahren ihren Wohnsitz hatten). Auch in der Wissenschaft erwarben sich etliche jüdische Menschen große Verdienste, unter ihnen die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin Cora Berliner und der Biochemiker Carl Neuberg. Für ein modernes Bildungswesen standen vor allem Ada und Theodor Lessing, die in Hannover die erste Freie Volkshochschule gründeten; beide waren zudem Mitglieder der SPD.
Religiöses Zentrum des Judentums in Hannover war damals die Neue Synagoge in der Calenberger Neustadt, ein Ausdruck der Religiosität und der Bedeutung der Gemeinde die Anlage des Neuen Jüdischen Friedhofs in Bothfeld (Hannover gehört zu den wenigen Städten, in denen alle - drei - jüdischen Friedhöfe die NS-Zeit überdauert haben). Allerdings erreichte die jüdische Einheitsgemeinde im Kultus, also in der religiösen Praxis, nur einen geringen Teil der jüdischen Menschen. Stattdessen war, wie Schulze berichtete, "die praktizierte Wohltätigkeit für die jüdische Gemeinde auch im 20. Jahrhundert von großer Bedeutung". Davon zeugten unter anderem das Krankenhaus und Altenheim im Zooviertel, ein Kindergarten und Hort an der Ohestraße, der heutige Heinemannhof in Kirchrode sowie ein Kindererholungsheim auf der Insel Norderney.
Trotz der "Entfremdung der Jugend von der jüdischen Religiosität" gab es ein reichhaltiges jüdisches Jugendleben, das sich vor allem in eigenen Sportvereinen niederschlug. Diese Vereinsgründungen waren zum größten Teil auch eine Reaktion auf die antijüdische Tendenzen in vielen Sport- und anderen Vereinen. Das befeuerte auch die Gründung zionistischer Vereine, was sich oft in den Vereinsfarben Blau-Weiß manifestierte. Der Jüdischen Gemeinde gelang es Anfang der 30er-Jahre durch eine verstärkte Jugendarbeit, die jüngere Generation wieder an sich zu binden: einige Veranstaltungen zählten mehr als tausend Teilnehmende. "Daraus hätte eine kraftvolle, junge jüdische Gemeinde entstehen können", meinte Schulze.
Stattdessen aber führte der Weg der jüdischen Menschen in Hannover - wie in Deutschland insgesamt - in die Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung. In den 20er-Jahren hatten antimodernistische und antisemitische Strömungen an Zulauf gewonnen, und bereits 1919 waren jüdische Studenten von den Wahlen des Studentenausschusses an der Technischen Hochschule ausgeschlossen worden. 1927 wurde die Neue Synagoge mit Hakenkreuzen beschmiert, und bei den Reichstagswahlen 1932 erhielt die NSDAP 40 Prozent der Stimmen in Hannover. In der Kleefelder Gartenstadt waren es sogar 54 Prozent: "Die jüdischen Kleefelder waren umgeben von einer Mehrheit von Antisemiten", resümierte Peter Schulze.
Mit der Regierungsübergabe an die Nationalsozialisten begann die existenzielle Bedrohung jüdischer Menschen, von denen etliche auswanderten, Tausende verschleppt und ermordet wurden. Theodor Lessing wurde bereits im Sommer 1933 im tschechischen Exil das Opfer nationalsozialistischen Attentäter, fünf Jahre später wurde die Neue Synagoge in der Reichspogromnacht zerstört und erstmals mehrere Hundert Männer nach Buchenwald verschleppt. Von mehr als zweitausend Verschleppten überlebten nur 123 jüdische Menschen aus Hannnover.
In Kleefeld wurde nach Deutschlands Befreiung vom Nationalsozialismus ein Heim für jüdische Überlebende eingerichtet. Von hier aus gründete Norbert Prager, der dank seiner Ehe mit einer nichtjüdischen Frau aus Buchenwald zurückgekehrt war und in Hannover überlebt hatte, wieder eine jüdische Gemeinde. Neben deren Synagoge in der Heckelstraße gibt es heute zwei weitere Synagogen (und Gemeinden) in Hannover - in Stöcken und in Ricklingen - und einen Betraum in der Südstadt.
Gekommen waren zu unserer Veranstaltung in der Leinetalschule vorgestern mehr als 50 Personen, unter ihnen viele Schülerinnen. Peter Schulzes eingängigem und lehrreichem Vortrag schloss sich eine interessante Diskussion an, bei der es auch um die Gefährdung jüdischen Lebens heute ging.